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Wohnbiographien / Genossenschaftliches Wohnen
Strehlen zwischen Legende und Wirklichkeit
Strehlen zwischen Legende und Wirklichkeit
Anfang Januar 1929 wurde in der Gemarkung Strehlen der letzte Wohnblock entlang der Teplitzer,
Lockwitzer und Dohnaer Straße durch die „Heimstättengesellschaft Sachsen" GmbH (HGS) übergeben.
Damit fand der Bau einer der beachtenswerten städtebaulichen Leistungen Dresdens nach den Entwürfen
des Architekten Paul Löffler ihren Abschluss. Etwa neun Monate später, Ende Oktober 1929, brach die
Weltwirtschaftskrise aus. Sie führte noch vier Jahre später, dieses Neubaugebiet betreffend, im Sommer
1933, zu einmaligen tragischen Ereignissen in der Stadt, die erst 1959/60 endeten. Die Veröffentlichungen
ungeprüfter mündlicher überlieferungen wie auch das Verdrängen und Verschweigen früherer Ereignisse,
ohne dass vorhandene zeitgenössische Dokumente dabei Berücksichtigung fanden, führten im Laufe der
Jahre zu Legenden wie der von einer angeblichen „Postsiedlung".
Strehlen nach 1892
Im Südosten Dresdens führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, u.a. die sprunghafte Entwicklung
der neu angesiedelten Industriebetriebe entlang der Eisenbahnlinie Dresden - Heidenau, im Jahre 1892 zur
Eingemeindung Strehlens. Nach der großen Eingemeindungsaktion von 1921 kam es zu einer
zukunftsweisenden Bebauungskonzeption im südöstlichen Bereich Strehlens. Seit 1922/23 war man um eine
städtebauliche Lösung bemüht, die dem Charakter eines repräsentativen Auftaktes als Stadtzugang
entspricht.
Hierzu gehört auch die Verlängerung der Teplitzer Straße (jetzt B172), beginnend am Abzweig Zellescher
Weg und ihrer Einbindung in die Dohnaer Straße. Damit war unter Umgehung des historischen Dorfkerns
eine wichtige Verkehrsverbindung geschaffen, die vom Stadtzentrum Dresdens über den Strehlener Platz in
Richtung Pirna führt. Zunächst verhinderten jedoch die Folgen der Inflation alle beabsichtigten
Baumaßnahmen.
Siedlung mit drei Bauherren
Der „Allgemeine Mietbewohnerverein in Dresden" errichtete in den Jahren 1925/26 vier Wohnbauten
entlang der Lockwitzer Straße 31-67 nach Entwürfen des Architekten Walter Seidler. Die 25 Wohnungen mit
Gärten gingen satzungsgemäß als Eigentum an die Nutzer über. Der „Allgemeine Mietbewohnerverein in
Dresden", Vorgänger des heutigen Deutschen Mieterbundes, wurde als älteste gemeinnützige
Bauvereinigung in der Stadt 1868 als Selbsthilfeeinrichtung zur Beseitigung der Rechtlosigkeit von Mietern
und der Beseitigung von Wohnungsnot und Wohnungselend gegründet. Die „Heimstättengesellschaft
Sachsen" GmbH (HGS) wurde als eine der ersten gemeinnützigen Gesellschaften 1914 gegründet. Zweck
der Gründung war laut Registereintragung der „Neubau von Kleinwohnungen sowie deren Vermietung und
Betreuung im eigenen Namen". Bereits 1919/20 errichtete die HGS in Seidnitz ihre ersten Wohnbauten im
Charakter einer Stadtrandsiedlung. Annähernd zur gleichen Zeit begann sie in Strehlen mit dem Bau
zweigeschossiger Wohnbauten entlang der Gotthardt-Kuehl-Straße und der Defreggerstraße nach Entwürfen
der Architekten Klette & Böttcher. Die Wohnungen konnten jedoch erst nach überwindung der Inflationsjahre
1926/27 bezugsfertig übergeben werden. 1926 begann im Bereich der Gabelung Teplitzer/Dohnaer Straße
der Bau der den Standort prägenden Wohnbauten nach Entwürfen des Architekten Paul Löffler. Ende 1928
waren die Baumaßnahmen mit der Fertigstellung von 294 Wohnungen abgeschlossen und im eigenen
Namen vermietet.
Der Baumeister Hanns Vasak erwarb im August 1930 unbebaute Grundstücke entlang der Dohnaer Straße
und Rayskistraße und errichtete bis 1934 auf diesem Gelände Häuser mit 179 Wohnungen als seinen
eigenen Besitz. Sie unterscheiden sich leicht mit ihren Flachdächern von den angrenzenden Wohnbauten
der HGS. Die Baumaßnahmen begannen mit vorteilhaften Wohnungsgrößen und im Sanitärbereich mit einer
Kombination von Bad/WC. Die Ende Oktober 1929 eintretende Weltwirtschaftskrise führte dazu, dass nur
noch Wohnungen mit ständiger Verringerung der Wohnfläche gebaut wurden. Nach der 3. Notverordnung
des Reichskanzlers Brüning vom Oktober 1931 mussten beim letzten Wohnblock entlang der Rayskistraße
die Baukosten gesenkt werden. Vasak erhöhte deshalb hier die Geschosszahl von drei auf vier. Außerdem
wurden die letzten vier Sektionen mit Kleinstwohnungen von knapp 50 Quadratmetern errichtet. Außer
einem WC war hier im Küchenbereich lediglich eine Nische zum Abstellen der „Volksbadewanne" aus
Zinkblech vorgesehen. Die letzten Wohnungen wurden 1933/34 bezogen.
Niedergang und Legende
Vasak, der in Dresden bereits Bauten für die Reichspost mit Erfolg errichtet hatte und deshalb dort das
nötige Vertrauen genoss, erhielt für seine geplanten Wohnbauten die erforderlichen Zwischenkredite von
der Oberpostdirektion Dresden. Als unlautere Gegenleistung hatte er die Vergabe seiner Mietwohnungen an
Angestellte der Reichspost vereinbart. Wegen dieser Tatsache, dass durch die Reichspost für diese Bauten
keine öffentliche Ausschreibung vorgenommen wurde, ist Vasak später wegen des Verdachts der
Beamtenbestechung belangt worden.
Die Baumaßnahmen am letzten Wohnblock Vasaks waren noch nicht beendet, da erschoss sich im Juni 1933
der für die Finanzierung der Wohnbauten zuständige Oberpostrat der Oberpostdirektion Dresden, um der
Verhaftung wegen eines Korruptionsverdachts zu entgehen. Er hatte im Namen der Reichspost
Kreditbürgschaften für die HGS und Vasak übernommen, obwohl er dazu nicht befugt war, und auch die
Bürgschaftsübernahmen sowohl seiner übergeordneten Behörde als auch seinen Vorgesetzten
verschwiegen. Es handelte sich bei der Kreditbürgschaft um Millionen-Kredite für Baumaßnahmen der
„Heimstättengesellschaft Sachsen", die sie bei fünf Banken in Anspruch genommen hatte. Da bei Hanns
Vasak der Verdacht der aktiven Beamtenbestechung vorlag, wurde er verhaftet, später ebenso der
Direktor der HGS. Der zu erwartende Strafprozess und seine Vorgeschichte erregten ein erhebliches
Aufsehen in der öffentlichkeit, zumal die Ereignisse in der Tagespresse ausführlich behandelt wurden.
Daraufhin forderten die fünf großen Banken die sofortige Rückzahlung der Kredite. Da die Schuldner hierzu
nicht in der Lage waren, nahmen die Banken aufgrund der vorliegenden Kreditbürgschaften die
Postverwaltung in Anspruch. Auf Weisung des Reichspostministeriums erklärte diese jedoch, dass sie die
fälschlich eingegangenen Verpflichtungen nicht anerkennen könne. Daraufhin gingen die Banken in einem
gesonderten Zivilgerichtsverfahren auf dem Klagewege zunächst gegen die „Reichspost" vor. Im April 1935
begann der Prozess vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Dresden, der mit der Verurteilung der
beiden Angeklagten endete. Da beide gegen das Urteil Revision einlegten, wurde es im November 1935
Gegenstand vor dem Reichsgericht in Leipzig. Hier wurde das Urteil gegen Vasak bestätigt und das gegen
den Direktor der HGS zurückverwiesen.
Konkursverfahren eingeleitet
Der Zivilgerichtsprozess der fünf Banken zog sich bis zum Jahre 1942 hin, wo es einem Berufungsgericht
endlich gelang, die Parteien zu Vergleichsverhandlungen zu bewegen. Die Forderungen der Banken waren
aufgrund der hohen Kreditzinsen und Spesen auf über 8 Millionen Reichsmark angestiegen, wobei der
überwiegende Teil der Forderungen auf die HGS entfiel.
Im Jahre 1954 wurde das Konkursverfahren über das Vermögen der Heimstättengesellschaft Sachsen
eingeleitet. Es betraf über Strehlen hinaus insgesamt 545 in den Kreisen der damaligen Bezirke Dresden,
Leipzig und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) gelegene Grundstücke. Gemäß Grundstücks- und
Auflassungsvertrag vom 31. März 1959 gingen die Bauten in die Rechtsträgerschaft der Deutschen Post
über. Nach Abwicklung des Verfahrens erlosch die Firma gemäß Beschluss des Kreisgerichts Dresden-Süd
vom 7. Dezember 1960. Die Legende von einer angeblichen „Postsiedlung" in Strehlen nahm hier ihren
Anfang.