Dresden
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Wie wir eine Hausgemeinschaft wurden
Wie wir eine Hausgemeinschaft wurden
Vielfach erfährt man, daß sich Bewohner von Hochhäusern kaum kennen oder bei Begegnungen kaum grüßen. Wenn zu einem Hauseingang mehr als 40 Familien gehören, kann das schon so sein. Eine solche Ansammlung von Menschen stellt andernorts fast ein kleines Dorf, einen Weiher, dar. Da werden in jedem Jahr Kinder geboren, da sterben alte Leute, es gibt Hochzeiten, Kindtaufen, Jugendweihen bzw. Konfirmationen und Trennungen von Partnern. Es ist immer etwas los, wie man so sagt.
Nun erhielten wir die Zuzugsbescheinigung für eine Wohnung in einem solchen neu erbauten Haus und freuten uns natürlich. Nach den von uns und den anderen Mietern durchgeführten "Feinreinigungen" in den künftigen Wohnungen wurden wir von der KWV (Kommunale Wohungsverwaltung) zur Schlüsselübergabe eingeladen. Vertreter der neuen Mieter trafen sich in einem Raum im Ergeschoß und "beschnupperten" sich zunächst einmal per distance. Eine Mitarbeiterin der KWV übergab einem künftigen Mieter Zettel und Bleistift und erklärte, dass die Schlüsselübergabe erst dann erfolgen könne, wenn auf dem Zettel 6 Namen stehen, die zunächst für die Hausgemeinschaftsleitung gelten sollen. Die Dame verließ den Raum. Alle Anwesenden schauten sich verdutzt an. Nach längerem betroffenem Schweigen beschloss ich, den Fortlauf der Dinge zu beschleunigen und erklärte mich bereit, in der Hausgemeinschaftsleitung (HGL) mitzuwirken, aber nicht als Vorsitzender. Daraufhin gaben, zunächst zögernd, weitere 5 Personen mit gleicher Einschränkung ihre Bereitschaft. Nun standen 6 Namen auf dem Zettel und der Schlüsselübergabe stand zunächst nichts mehr im Wege. Fast alle waren es zufrieden. Nur die 6 direkt Betroffenen mussten nun noch den Vorsitzenden küren. Dieser Vorgang erwies sich als der schwierigere. Es stellte sich heraus, daß alle 6 Personen im Betrieb oder im Wohngebiet bereits ehrenamtliche Tätigkeiten, ohne Honorare oder Diäten, ausübten. Da ich mich als Leiter eines Fachgrermiums im Ingenieurverband als ausreichend ausgelastet ansah, wollte ich hier nicht wieder "den Ton angeben". Nach längerer Beratung waren sich 5 einig, daß der 6. und Jüngste am Würdigsten ist, das Amt des HGL-Vorsitzenden auszufüllen. So galt die Wahl als abgeschlossen und man konnte zu Taten schreiten.
Die Mitteilung der KWV an die HGL, dass auf dem Hauskonto für die vielen Reinigungsarbeiten mehr als 2.000 Mark der DDR zur Verfügung stehen, verstärkte unseren Tatendrang. Eine Gaststätte wurde gefunden, zwei kleine Schweine gekauft und von der Wirtschaft verarbeitet, ein Fass Bier auf dem Saal aufgestellt und eine Kapelle besorgt.
Der im Haus angebrachten Einladung zum Hausfest folgte der große Teil der Mieter. Mit einem Autobus (damals noch leichter mög1ich a1s nach der Verordnung des strengen Benzinkontingentes) wurden die Festteilnehmer zur Gaststätte an der Peripherie von Dresden gebracht.
Im Saal der Gaststätte kam bei Essen, Trinken und Tanz schnell Stimmung auf. Erstaunlich, was zunächst Fremde alles zum Gelingen eines Abends beitragen können. Auf der Heimfahrt im Gelenkbus verstanden sich alle schon prächtig. Wir fanden, dass das für dieses Fest verwendete Hausgeld lohnend angelegt war.
Fortan grüßten sich die meisten Mitbewohner im Fahrstuhl, es kam zu Nachbarschaftshilfen, zu gemeinsamen Feiern im selbst geschaffenen Klubraum, zu Hausfesten, Faschingsfeiern und auch zu gemeinsamer Arbeit an den Grünanlagen. z.B. stellte das Gartenamt nach den Straßenbefestigungen Muttererde bereit, und wir waren die ersten, die das Angebot nutzten, damit uns unser Hausumfeld recht bald Freude bereiten sollte. Das ging folgendermaßen vor sich: Der in der HGL für VMI (freiwillige Arbeitseinsätze) Zuständige stellte einige Kästen Bier und Werkzeug vor die Haustür und rief durch die Sprechanlage die willigen Männer am Sonnabendvormittag zum Einsatz. Es kamen immer genügend - aus welchen Motiven auch immer.
Erfolg: unser Hof war bald der schönste.
Dass später diejenigen, die die meisten VMI-Stunden geleistet hatten, auch die ersten Anwärter auf einen Garagenstellplatz waren, fanden die meisten Mieter recht und billiq.
So kamen wir, ohne Zwang auszuüben (wer z.B. nicht zum jährlichen Hausfest mit kostenlos - vom Hausgeld für VMI-Leistungen - gereichten Speisen und Getränken kam, war selbst schuld) zu einer Art Hausgemeinschaft, die sich unter den "A1ten" bis heute gehalten hat. Nach der Wende wurde in einer Wahl die HGL durch eine Mietervertretung aus "Alten" und "Neuen" ersetzt, und die meisten der zugezogenen jungen Leute fügen sich gut in die "Hausgemeinschaft" ein.